01/11/2021

Zehn Jahre Buchbinden

oder: Von Alle meine Entchen zu den Goldberg-Variationen

Aussicht von der Werkbank in den nebligen Garten
An solch einem nebligen Tag habe ich das Buchbinden angefangen.

In meinem letzten Blogbeitrag hatte ich geschrieben, dass man im Werkunterricht kein Handwerk erlernt; ganz so wie jemand, der Alle meine Entchen auf dem Klavier spielen kann, noch lange kein Pianist ist. Im November 2011, also vor zehn Jahren, habe ich mein erstes selbst gebundenes Buch angefertigt, also quasi Alle meine Entchen spielen gelernt. Dieses Buch habe und nutze ich noch immer, auch wenn es reichlich Fehler enthält, wie sie Anfänger gerne machen. Aber das ist gut und wichtig, denn heute weiß ich, warum es Fehler waren und wie man es besser machen kann.

10 000 Stunden Üben am Limit

Zehn Jahre Buchbinden sind aber nicht nur ein rundes Jubiläum: Zehn Jahre muss ein Mensch auch üben, um richtig gut in etwas zu werden. Laut Daniel Coyle, dem Autor von The Talent Code (vom deutschen Verlag denkbar reißerisch und unzutreffend mit 'Die Talent-Lüge' übersetzt), sind 10 000 Stunden (etwa zehn Jahre) Training nötig, um herausragende Fähigkeiten zu entwickeln. Damit ist aber nicht lockeres Wiederholen gemeint, sondern etwas, das ich 'Üben am Limit' nenne. Üben am Limit ist hart und kann schnell frustrierend werden, denn man bewegt sich an der Grenze der eigenen Fähigkeiten und scheitert dementsprechend häufig. Es hilft, die Sache wirklich zu wollen, um trotz Rückschlägen dranzubleiben. Gute Lehrer (oder Lehrbücher) helfen auch. Bei Autodidakten wie mir ist eine Extraportion Frustrationstoleranz nötig, weil da keine Meisterin ist, die einem schnell zeigt, wie man es richtig macht, wenn etwas misslingt. Das muss man selbst herausfinden. Dennoch bin ich im Nachhinein zufrieden damit, nicht in einem Betrieb gelernt zu haben, denn das bringt – je nach Ausbildungsplatz – nicht immer nur Vorteile.

Damit dieser Blogbeitrag jetzt nicht in Selbstbeweihräucherung ausartet, möchte ich noch sagen, dass ich mich in den vergangenen zehn Jahren selbstverständlich nicht ununterbrochen am Limit abgearbeitet habe, aber eine ansehnliche Zahl Stunden harten Trainings ist schon zusammengekommen. Ich kann inzwischen Arbeiten ausführen, die denen von Kolleginnen und Kollegen mit Gesellen- oder Meisterbrief in nichts nachstehen. Wenn mein allererstes Buch wie Alle meine Entchen war, so übe ich heute die anspruchsvollen Goldberg-Variationen. Scheitern an den Grenzen der eigenen Fähigkeiten kommt aber immer noch regelmäßig vor.

P.S.: Falls der Eindruck entstanden ist, ich könnte Klavier spielen – das kann ich nicht. Aber ich liebe klassische Musik.

Wenn Sie kommentieren möchten, schreiben Sie mir eine E-Mail mit dem jeweiligen Titel des Blogbeitrags als Betreff an
ateliergry@gmail.com
Relevante Informationen aus Kommentaren werde ich am Ende des Eintrags veröffentlichen.