31/07/2023

Der Eckenabschneider

oder: Fremdsprachen lernen zahlt sich irgendwann aus!

In einem früheren Leben (so fühlt es sich zumindest an) habe ich einmal Spanisch gelernt. Im Gegensatz zum Englischen konnte ich es aber nie richtig flüssig sprechen und die Kenntnisse sind schnell eingerostet. Aber vor zwei Jahren habe ich im Internet den Blog reino artesanal entdeckt: Eine Fundgrube mit 50 Anleitungen für Buchbindearbeiten jenseits des Üblichen; von ganz einfachen Bindemöglichkeiten für Anfänger über Koptische Bindungen und CrissCross-Bindungen (alias Secret Belgian Binding) bis hin zu Benjamin Elbels Onion Skin Binding. Aber, wie man vielleicht schon am Namen hört: Der Blog ist auf Spanisch geschrieben.

Zu meiner freudigen Überraschung habe ich festgestellt, dass ich mit meinem rostigen Spanisch reino artesanal einigermaßen verstehen kann. Natürlich waren Buchbinder-Fachbegriffe nicht Teil meines Schul-Spanisch, aber hier hilft LEO. Und so habe ich unter vielen Schätzen auch eine Anleitung für dieses nützliche Hilfsmittel auf reino artesanal entdeckt: den Eckenabschneider.

Selbst gefertigtes Werkzeug aus Graupappe, das als Hilfsmittel zum richtigen Abschneiden von Ecken im Überzugsmaterial dient.

Beim fachgerechten Beziehen einer Pappe (zum Beispiel für eine Buchdecke) muss man das Bezugsmaterial (Papier, Einbandgewebe, o.Ä.) an jeder Ecke im richtigen Winkel und Abstand abschneiden, um die Ecke sauber ausarbeiten zu können. Das ist nicht so einfach und verlangt sehr viel Übung (so in der Größenordnung von mehreren hundert Ecken pro Arbeitstag), wenn man es frei Hand wirklich jedes Mal korrekt hinbekommen will. Wer nun kein Genie mit stets perfektem Augenmaß ist und sich nicht mit der einen oder anderen miesen Ecke zufriedengeben will, kann also ein Hilfsmittel gut gebrauchen.

Die Unterseite des Eckenabschneiders zeigt die Aussparung, die später auf die Pappe gesetzt wird, um die Ecke des Bezugsmaterials abschneiden zu können.
Die Unterseite des Eckenabschneiders zeigt die Aussparung für die Pappe.
Der Eckenabschneider in Arbeitsposition mit einem Extrastück Pappe von 1mm Dicke vor der Schneidekante, was den Abstand des Schnittes zur Ecke erhöht.
Der Abstand, in dem das Bezugsmaterial abgeschnitten wird, kann auch erhöht werden. Dazu stellt man ein Stück Pappe vor die Schneidekante. Hier erhöht eine 1 mm dicke Pappe den Abstand um 1 mm, um mehr Raum für das Umschlagen von steifem Material wie Efalin zu erhalten. Mehr Informationen zum Einsatz des Eckenabschneiders und eine genaue Arbeitsanleitung gibt es auf dem Blog reino artesanal.

Auch Weltklasse-Buchbinder mit Werken in Museen und Einbandkunstsammlungen von Staatsbibliotheken nutzen ein solches Werkzeug. Mark Cockram, Fellow der Britischen Designer Bookbinders, beschreibt in seinem Artikel in The New Bookbinder, Volume Thirty-Nine aus dem Jahr 2019, wie und warum er unter anderem seine eigene Version eines Eckenabschneiders entwickelt hat – und dass seine Ehefrau Midori Kunikata-Cockram, ebenfalls Fellow der Designer Bookbinders, sich die Vorgängerversion ausgeliehen hat und sie nun nicht wieder herausrücken will.

Aber was machen Leute, die kein Spanisch verstehen und sich trotzdem so ein Helferlein zulegen möchten? Sie kaufen sich eins aus 3D-gedrucktem Kunststoff bei Schmedt, oder sie nutzen den DeepL Translator, der die reino artesanal Anleitung meines Erachtens viel besser übersetzt als Google. Vor allem, wenn man ihm beibringt, dass plegadera in diesem Fall 'Falzbein' bedeutet.

Nachtrag: 'Eckenabschneider' ist eigentlich nicht die richtige Bezeichnung für dieses Werkzeug, weil es ja nicht von selbst die Ecken abschneidet. Richtiger wäre 'Schablone zum Abschneiden von Ecken', aber das ist ein bisschen unhandlich.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.

17/07/2023

Im Maschinenpark

Vor etwa einem Jahr habe ich bemerkt, dass ich Schmerzen in der Hand entwickele, wenn ich lange zuschneiden muss, also beispielsweise über hundert Kreise oder ein Dutzend komplizierter Teile aus festem Karton. Als Kunsthandwerkerin kann man keine schmerzenden Hände brauchen, denn sie sind das wichtigste Werkzeug und wollen pfleglich behandelt werden. Daher habe ich überlegt, ob mir nicht etwas die anstrengenden und auch die monotonen Schneidearbeiten abnehmen könnte.

So ein Helferlein gibt es tatsächlich und vor kurzem habe ich meinen 'Maschinenpark' durch einen Schneideplotter ergänzt.

An meinem Arbeitsplatz stehen aufgereiht ein aufgeklappter Laptop, ein Silhouette Portrait 3 Schneideplotter und ein alter Tintenstrahldrucker.
Der Atelier Gry Maschinenpark in vollem Gange: Laptop, Schneideplotter und Drucker.

Nun bin ich ja sonst stolz auf meine Feinmotorik und was meine Hände können. Ich kann Kreise ausschneiden und mit Geduld und Ruhe (und einem Podcast auf den Ohren) mit dem Skalpell feinste Schneidarbeiten ausführen. Aber wie der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch The Craftsman sagt (in deutscher Sprache 2008 als Handwerk erschienen), macht der Einsatz von Maschinen auch im Handwerk Sinn, wenn die Maschine den Menschen unterstützen kann. Unterstützen, nicht ersetzen.

In der Küche hilft ein Mixer beim Sahne schlagen, während ein Mensch kocht. Seit der Industriellen Revolution wird hingegen versucht, die menschliche Arbeit soweit wie möglich durch Maschinen zu ersetzen, denn Maschinen brauchen weder Pausen noch Urlaub, sie wollen keinen Lohn und sind auch nicht in Gewerkschaften organisiert (was natürlich selten jemand offen zugegeben hat). Und eine maschinelle Produktion hat ja auch viele Dinge für die meisten erst erschwinglich gemacht – allerdings zu dem Preis, dass diese Dinge langweilig einförmig aussehen und nicht mehr lange halten.

Richard Sennett schlägt nun vor, die schweren bis gesundheitsschädlichen Anteile der Arbeit den Maschinen zu überlassen, während Menschen sich auf das konzentrieren, was sie am besten können: beim Arbeiten sehen, fühlen, beurteilen, neu komponieren, überhaupt eine eigene Arbeitsweise haben, in Sekundenbruchteilen die Herangehensweise anpassen und auch komplett Neues erfinden. Vielleicht werden Maschinen das einmal dank KI können, aber im Moment weiß mein Schneideplotter nicht einmal, wo das Papier zu Ende ist und schneidet munter in die Matte, ohne etwas zu bemerken, wenn die Einstellungen nicht stimmen.

Silhouette Portrait 3 Schneideplotter bei der Arbeit. Werkzeughalter, Schneidematte und Papier sind aufgrund der hohen Geschwindigkeit verschwommen.
Sie ist schnell und wiederholt mit Kraft und Ausdauer auch feinste Bewegungen beliebig oft ohne jede Variation: Bei mir in der Werkstatt rattert und knirscht eine Silhouette Portrait 3.

Auf jeden Fall kann ich nun in Ruhe die Exponate für die diesjährige Winterausstellung in der Galerie Handwerk Koblenz vorbereiten, während meine maschinelle Assistentin gelochte Jugendstil-Preisschilder ausschneidet.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.

03/07/2023

Die Kraniche des Juli

Vier Origami-Kraniche mit Hanafuda-Muster für den Monat Juli auf einer Wiese mit blühenden Kleinen Braunellen

Die Kraniche tragen im Monat Juli Japanischen Buschklee (Lespedeza). Das ist kein Klee, sondern ein Schmetterlingsblütler aus der Familie der Hülsenfrüchtler, der in Europa nicht vorkommt. Aber vermutlich ist die Kleine Braunelle (Blume des Jahres 2023), die so gut zu ihren indigofarbenen Köpfen und Schwänzen passt, für die Kraniche ein akzeptabler Ersatz.

Klicken Sie einmal auf das Foto und sehen Sie sich das Tier auf dem untersten Kranich genauer an. Das, was ein bißchen so aussieht wie ein Igel mit viel zu langen Beinen, ist ein Wildschwein. Ja, die gibt es auch in Japan! Dort sind sie gefürchtet als besonders draufgängerische, ungestüme Tiere. (Das können die Bewohner von Berlin, Barcelona oder Rom wahrscheinlich nachvollziehen.) Sie stehen aber auch für Reichtum. So hat man früher geglaubt, dass reich wird, wer ein Büschel Wildschweinborsten in seinem Geldbeutel trägt. Vielleicht war das aber auch sinnbildlich gemeint, denn vor etwas mehr als hundert Jahren hat es in Japan einen Geldschein gegeben, auf dem ein Wildschwein abgebildet war. Viele solcher 'Wildschweine' im Geldbeutel machten dann tatsächlich reich.

Zum Schluss noch ein praktischer Tipp. Wenn Sie schon einmal versucht haben, selbst einen Kranich zu falten (ein Anleitungsvideo gibt es hier), ist es Ihnen vielleicht passiert, dass beim letzten Schritt, wenn die Flügel auseinandergezogen werden und sich der Kranich-Rücken rundet, das Papier am Rücken aufreißen will. Keine Sorge, das liegt am Papier und nicht an Ihnen! Bei Chiyogami, Washi, anderen Japanpapieren, Lokta-Papier oder auch Büttenpapier passiert das nicht, denn diese Papiere bestehen aus langen Fasern, die viel mehr aushalten können als die kurzen Fasern in unserem normalen Standardpapier. Wenn Sie also mit Papier falten wollen, von dem Sie wissen, dass es schwächelt, kleben Sie auf die Rückseite der gefährdeten Stelle ein Stück Tesafilm. Am besten macht man das, nachdem man das Papier zweimal diagonal von Ecke zu Ecke gefaltet hat. In die Mitte, wo sich die Faltlinien kreuzen, kommt (nur auf die Rückseite!) ein Stückchen Tesa, das etwas länger als der Kranich-Rücken ist. Gefahr gebannt!

Leider kann man einem Papier nicht ansehen, wie es sich falten lässt. Beim Anfertigen eines Probestücks wird allerdings schnell klar, ob und wo es Probleme gibt. Deshalb raten erfahrene Falter dazu, kein Papier in großen Mengen zu kaufen, bevor nicht seine Falteigenschaften bekannt sind. Das gilt auch für speziell für Origami angebotenes Papier, und sogar für Importe aus Japan.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.