06/05/2024

Atelier Gry repariert, die Zweite

Kintsugi – Reparieren auf japanische Art

Am 11. März habe ich darüber geschrieben, wie ich in ein paar älteren Semestern unter meinen Werken rostende Magnete entdeckt und diese repariert habe. Dabei ging es mir darum, die rostenden Magnete durch intakte zu ersetzen und Stellen im Futterpapier mit Rostflecken möglichst unsichtbar gegen sauberes Futterpapier zu tauschen. Auch wenn es keine Flecken gab, musste ich das Futterpapier aufschneiden, um an die Magnete zu gelangen. Nach Abschluss der Reparatur musste dieser Schnitt wieder geschlossen werden. Ich denke, das ist mir gut gelungen. Wie Sie sehen können, sehen Sie nichts von einer Reparatur an meiner eigenen Box mit Häkel- und Strumpfstricknadeln!

Geöffnete Stiftebox mit saftgrünem Gewebebezug und einem Futter aus dem Chiyogami 'Ume', gefüllt mit mehreren Strumpfstricknadeln und Häkelnadeln.

Aber auch wenn man nichts sieht, fühlen kann man die reparierten Stellen schon und manchmal, je nach Lichteinfall, auch eine feine Linie sehen. Nach unserem westlichen Verständnis ist die reparierte Box somit mängelbehaftet und nicht mehr viel wert. Wäre es nicht meine eigene, ich könnte sie allerhöchstens noch als B-Ware verkaufen, obwohl die reparierte Box tatsächlich stärker geworden ist im Vergleich zu einem unversehrten Stück. Aber so ist unser westliches Verständnis: Nur perfekte und makellose Schönheit ist vollkommen – und das, obwohl wir alle wissen, dass Perfektion unmöglich ist und Makel sicher kommen werden. Bei unseren Gegenständen durch die unvermeidbaren Gebrauchsspuren und bei uns selbst durch Krankheit und das Altern.

Das Bestehen auf Vollkommenheit erzeugt ungeheuren psychischen Druck und eine Menge Müll, ist also inhärent keine gute Sache. Dabei könnten wir uns entspannen, indem wir die Sache mit der Schönheit nicht so eng sehen. Es geht nämlich auch anders.

In Japan kennt man das Konzept des wabi sabi. Kurz gesagt bedeutet es, dass Schönheit erst durch kleine Fehler interessant und 'vollkommen' wird, und dass Gebrauchsspuren erst den Charakter und den Wert eines Gegenstandes ausmachen. In anderen Worten: Erst die Macken machen die Teeschale perfekt. Aber was, wenn die Teeschale herunterfällt und kaputtgeht? Dem Shogun Ashikaga Yoshimasa ist im 15. Jahrhundert genau das passiert. Und es war eine besonders schöne und wertvolle chinesische Teeschale, die da in Scherben lag. Da es sich um seine Lieblingsschale handelte, hat er sie zum Reparieren zurück nach China geschickt. Sie wurde auch repariert, so wie das damals üblich war: Die Scherben wurden mit Hilfe von Metallklammern zusammengefügt. Dem Shogun hat das Ergebnis allerdings überhaupt nicht gefallen. Aber was das Schlimmste war: Aus der geklammerten Schale konnte er keinen Tee mehr trinken!

Ashikaga Yoshimasa hat daraufhin japanische Handwerker beauftragt, seine Schale noch einmal zu reparieren. Und diese haben die Scherben mit Hilfe von Urushi-Lack zusammengeklebt, aber nicht etwa unsichtbar. Dem Lack wurde Goldpulver hinzugefügt, so dass zwischen den Scherben goldene Fugen entstanden, die man nach Wunsch fein abschleifen oder auch erhaben stehen lassen konnte. Das war die Geburtsstunde von Kintsugi, was in etwa "Zusammenfügen mit Gold" bedeutet und heute immer noch praktiziert wird. Als westlicher Mensch muss man das einmal kurz verinnerlichen: Anstatt den Makel zu verbergen wird er hervorgehoben und gar vergoldet! Ashikaga Yoshimasa jedenfalls war mit der Reparatur hoch zufrieden und konnte seine Schale wieder zum Teetrinken benutzen.

So sieht Kintsugi aus. Dies ist eine Koreanische Teeschale (16. Jhd.) aus dem Ethnologischen Museum in Berlin mit den typischen goldenen Fugen in der rechten Hälfte.
Von Daderot - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45589849

Hat das alles irgendetwas mit Buchbinden zu tun? Ja, denn aus dem Konzept Kintsugi kann man Gewerk-übergreifend etwas lernen. Zum einen kann eine Reparatur, richtig ausgeführt, den Wert eines Gegenstandes bewahren und sogar erhöhen. Wobei es vom Kontext abhängt, was im Einzelfall 'richtig' ist. Zum anderen muss eine Reparatur nicht zwingend versteckt werden.

Ich arbeite gerade an einer neuen Reihe von Boxen, die zu Ehren der Bamberger Kaliko (die seit 2022 den Betrieb eingestellt hat) ganz mit Buchgewebe in mehreren harmonischen Farbtönen bezogen sein soll. Dazu beizeiten mehr. Bei solcher Entwicklungsarbeit fallen immer Stücke an, wo das eine oder andere auf Anhieb nicht so gut gelingt und was in einem zweiten Durchgang verbessert werden soll. Man könnte solche Prototypen nun als mangelhaft wegwerfen – oder sie, falls sie ansonsten gut gearbeitet sind, mit Hilfe der Kintsugi-Idee aufwerten und zu einer eigenen Reihe weiterentwickeln. Sie können gespannt sein, ob und wie mir das gelingt.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.