18/10/2021

Immaterielles Kulturerbe

Zum Aussterben verurteilt?

Seit März diesen Jahres ist das Buchbinderhandwerk im Unesco-Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Das ist eine schöne Anerkennung, aber haben Buchbinder konkret etwas davon? Wird das Menschen dazu bewegen, mal öfter zum Buchbinder zu gehen? Ich glaube kaum.

Auf der Web-Seite der Unesco – auf der man den Staub alter Bücher fast schon riechen kann – heißt es ganz richtig: "Es [das Buchbinderhandwerk] trägt insbesondere zum Erhalt alter Bücher und von Archivgut bei." Dazu passend zeigen die dazugehörigen Fotos alte, beschädigte Bücher, die repariert werden. Das ist tatsächlich eine sehr wichtige Arbeit. Ich glaube auch, die Anstellung in einer Bibliothek oder einem Archiv zum Reparieren oder Restaurieren ist eine der wenigen Möglichkeiten, als handwerkliche Buchbinderin oder Buchbinder ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen, ohne sich mit Kursen, Partnern mit geregeltem Einkommen oder Nebeneinkünften über Wasser halten zu müssen. Ich habe den allergrößten Respekt für die Kolleginnen und Kollegen, die alte Schätze erhalten können! Daneben gibt es laut Web-Seite für Buchbinder noch zwei Tätigkeitsfelder: das Einbinden unterschiedlicher Erzeugnisse (wie Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten oder Zeitschriftenjahrgänge) und die kunsthandwerkliche Fertigung von Bucheinbänden. Letzteres ist mein Feld. Aber: Unesco, wir haben ein Problem!

Vor zwei Jahren habe ich einmal einen Leserbrief geschrieben zu einem Zeitungsartikel, in dem es darum ging, dass es Menschen braucht, die 'unsere Werte und unsere Handwerkskunst bewahren', und dass es zu diesem Zweck wieder mehr Werkunterricht an den Schulen geben solle. Ich setze einmal voraus, dass allen klar ist, dass man im Werkunterricht kein Handwerk lernt, sondern nur auf den Geschmack kommen kann. Jemand, der Alle meine Entchen auf dem Klavier spielen lernt, ist ja auch noch lange kein Pianist. Aber das nur nebenbei. Mir fällt regelmäßig das Falzbein aus der Hand, wenn Menschen davon sprechen, dass Werte und Handwerk bewahrt werden sollen, ohne dass auch klar gesagt wird, wie das vor sich gehen soll. Ich möchte diese Menschen dann fragen, woher sie denn die Dinge des täglichen Lebens beziehen. Gehen sie zum Metzger, Schneider, Schmied, Tischler (oder Buchbinder) oder eben doch zum Supermarkt, ins Einkaufszentrum und zum schwedischen Möbelhaus? 'Merkst' was?" würde ein Mitglied meiner Familie jetzt sagen.

Handwerker wollen liebend gerne Werte, Handwerkskunst und Traditionen bewahren und sehen dieses teilweise sogar als ihre Berufung. Aber es gibt ein Phänomen in unserer Gesellschaft, mit dem heutige und wahrscheinlich auch zukünftige Wertebewahrer konfrontiert werden, wenn sich nichts ändert: In Deutschland ist Geiz immer noch geil. Handwerkliche Arbeiten sind den meisten Menschen zu teuer – im Vergleich zu Industrieware, zur Arbeit von Menschen aus Billiglohnländern. Es reicht aber nicht aus, nur davon zu sprechen, Werte bewahren zu wollen oder es jungen Leuten zu ermöglichen, etwas zu gestalten. Die Arbeit mit den eigenen Händen, also das praktische Bewahren von Handwerkskunst, braucht unbedingt auch genügend Andere, die bereit sind, dafür zu zahlen. Wenn Gestalter und Handwerker nicht mehr arbeiten, weil sie keine Aufträge bekommen oder ihre Werke nicht verkaufen können, werden Werte und Handwerkskunst zwangsläufig verloren gehen.

Denken Sie daran, wenn Sie einen der vielen Kunsthandwerker- und Weihnachtsmärkte besuchen, die hoffentlich bald wieder stattfinden. Vom Vorbeischlendern und Loben der schönen Auslage kann niemand leben.

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