31/05/2021

Die Ästhetik des Unperfekten und das Handgemachte

 

Da muss die Jury aber Augen gemacht haben! Zwei Porzellanobjekte, eines aufrecht stehend wie eine bauchige Vase, das andere wie zur Seite weggeknickt und umgefallen. Ein Objekt scheinbar gelungen, das andere scheinbar misslungen, beide eingereicht als Wettbewerbsbeitrag für den Staatspreis MANUFACTUM für das Kunsthandwerk Nordrhein-Westfalen. Und nicht nur eingereicht, denn die Keramikerin Maria Pohlkemper hat mit ihrem Beitrag 'WISP – WHAT IS PERFECT' in der Kategorie Objekt und Skulptur auch gewonnen!

"Beeindruckt war die Fachjury über das im Brennprozess verformte Objekt, das die Herstellerin mit ihrem Ergebnis akzeptiert und damit für sich einen neuen Weg beschreiten konnte. Der Schritt, das 'unperfekte' Objekt gerade wegen seiner Brüche und Risse zu akzeptieren, darin eine eigene Schönheit und Lebendigkeit zu entdecken, wurde als ein neuer Aspekt der Wahrnehmung gewertet."

In Japan ist dieser Aspekt der Wahrnehmung gar nicht neu. Ich kann mich noch erinnern, in der Japan-Galerie, ganz oben im British Museum in London, vor einem Schaukasten mit Teeschalen gestanden und mich gewundert zu haben, dass einige Schalen kleine Macken hatten, wo die Glasur abgesprungen war. Zu Hause hätte eine solche Schale als kaputt gegolten und wäre bald im Müll gelandet. Eine Tafel neben dem Schaukasten informierte mich, dass diese Macken in Japan 'Insektenbisse' genannt werden und erst die besondere Schönheit der Keramik ausmachen. Dies ist Teil von Wabi Sabi, der Ästhetik des Unperfekten und der Gebrauchsspuren. Der Zenmeister Sen no Rikyu (1522–1591) sagte dazu: "Es gibt Menschen, die eine Sache schon beim kleinsten Mangel ablehnen – mit solch einer Haltung zeigt man nur, dass man nichts verstanden hat."

Diese Haltung empfinde ich in Deutschland als sehr weit verbreitet. Für viele ist nur makellos und absolut gleichförmig akzeptabel. Dies wird auch und gerade auf Handgemachtes angewendet. Ein Mitglied meiner Familie zum Beispiel betrachtet eine von Hand genähte Naht nur dann als gelungen, wenn sie sich optisch nicht von einer Maschinennaht unterscheidet. Auch Strickerinnen grämen sich angeblich, wenn ihr Handgestricktes nicht so aussieht wie ein gekauftes Teil, das maschinell gestrickt wurde. Ich glaube, dass hier die glatte und perfekte, aber seelenlose Maschinenästhetik der sich unendlich wiederholenden gleichen Bewegung zum Nonplusultra erhoben wird. Im Gegensatz dazu wirkt Handgemachtes unregelmäßig, schief, rustikal, minderwertig. Als Kunsthandwerkerin ist es für mich besonders unerfreulich, wenn Mitmenschen so denken. Handgemacht ist natürlich kein Freibrief für Nachlässigkeit und Murks. Fehler müssen korrigiert werden. Aber die kleine Unebenheit hier oder der halbe Millimeter Unterschied da sind Zeugnis eines lebenden Menschen, der am Werk war. Oder in den Worten einer Figur in Tom Sallers Roman 'Ein neues Blau':

"Maschinen leisten Fließbandarbeit, Menschen aber hauchen ihrem Werk Persönlichkeit ein […]. Je unmittelbarer das Einwirken des Individuums, umso beseelter erscheint die Materie."

Stellenweise findet bereits ein Umdenken statt und handgemachte Produkte werden gerade wegen ihrer kleinen Unperfektheiten als charaktervoll und authentisch geschätzt, mit einer Geschichte und Seele, wenn man so will. Dennoch ist es geradezu revolutionär, dass die Jury eines Kunsthandwerkerpreises ein scheinbar misslungenes Werk auszeichnet. Obwohl – welches der beiden Objekte ist denn nun misslungen? Vielleicht ist es ja das Objekt, das stehen geblieben ist und nun im Vergleich etwas steif anmutet, während das im Brennprozess verformte Objekt eine dynamische Linie und interessante Bewegung bekommen hat. Schauen Sie sich die Objekte auf https://www.pohlkemper.de an und entscheiden Sie selbst!

P.S.: Und Ihre Schalen mit 'Insektenbissen' müssen vielleicht auch nicht mehr sofort weg.

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17/05/2021

Wettbewerbe

2011 habe ich meine autodidaktische Ausbildung zur Buchbinderin begonnen. Zehn Jahre später könnte man annehmen, dass ich inzwischen etwas kann, also habe ich beschlossen, ab 2021 an Wettbewerben teilzunehmen.

Hier sind neben allgemeinen Wettbewerben für Kunsthandwerker die Wettbewerbe speziell für Buchbinder interessant. Betrachtet man allerdings bei Letzteren die preisgekrönten Werke, kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, Bücher müssten zwingend in Leder oder Pergament eingebunden werden, um preiswürdig zu sein (aber es gibt zum Glück auch Ausnahmen!). Da ich nicht mit solchen Materialien tierischen Ursprungs arbeiten möchte, die meiner Auffassung nach weder zeitgemäß noch unbedingt technisch notwendig sind, von der Nachhaltigkeit ganz zu schweigen, vergeht mir da die Inspiration.

Glücklicherweise gibt es aber noch andere Gelegenheiten, sein eventuell vorhandenes Können zu zeigen. Eine hat sich bereits Ende letzten Jahres ergeben: Ein internationaler Wettbewerb der Stichting Handboekbinden (Niederländische Stiftung für Handbuchbinden).

Copyright: Stichting Handboekbinden

Bei diesem Wettbewerb geht es darum, eine Box für ein gekauftes, industriell gebundenes (Lieblings-)Buch herzustellen. Da die Wertung der Jury noch nicht abgeschlossen ist, kann ich meinen Wettbewerbsbeitrag hier noch nicht vorstellen, werde dies aber nachholen, sobald es möglich ist.

In meinem Bundesland Rheinland-Pfalz gibt es einen Staatspreis für das Kunsthandwerk, der alle drei Jahre ausgeschrieben wird. Bis zur nächsten Ausschreibung ist es noch eine Weile hin, aber im Nachbar-Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde gerade der Staatspreis MANUFACTUM vergeben. Eine der Preisträgerinnen ist die Buchbinderin Theresa Wedemeyer aus Münster. Sie hat geschafft, was in Rheinland-Pfalz seit 1970 noch keiner Buchbinderin und keinem Buchbinder gelungen ist, nämlich einen Staatspreis zu gewinnen (dafür haben seit 1960 ein Buchbinder und drei Buchbinderinnen den Förderpreis, und seit 1998 eine Buchbinderin den Preis des Handwerks gewonnen). Aber auch Frau Wedemeyers Werk ist in Leder gebunden.

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03/05/2021

Ein moderner Nag Hammadi Codex

Zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Im Jahr 1945 stießen Bauern beim Graben nahe des ägyptischen Dorfes Nag Hammadi auf einen großen, verschlossenen Tonkrug. Was mochte da wohl drin sein? Nach anfänglichem Zögern (Es könnte ja etwas Gefährliches sein!) überwog die Neugier (Es könnte ja ein Goldschatz sein!), aber heraus fielen nur einige äußerst alte, in Leder gebundene Bücher oder dicke Hefte.
Eine ganze Abenteuergeschichte später, in der die Hefte beinahe im Ofen gelandet wären, auseinandergenommen und teilweise auf verschlungenen Wegen verkauft worden waren, versammelten sich fast alle mehr oder minder wohlbehalten im Koptischen Museum in Kairo. Die dicken Hefte waren nämlich ein ganz besonderer Schatz: Dreizehn um 350 n. Chr. geschriebene Bücher mit frühchristlichen gnostischen Texten, teilweise zuvor komplett unbekannt, und die ältesten bisher entdeckten Codizes im original erhaltenen Einband. Religiöse Texte standen damals üblicherweise auf Schriftrollen, aber im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. begann man, Codizes zu verwenden; also das, was man heute unter Büchern versteht. Natürlich waren die meisten Forscher wegen der Texte ganz aus dem Häuschen, nur eine kleine Handvoll Sonderlinge genannt Buchbinder interessierte sich überhaupt für das Drumherum.

János Alexander Szirmai, ungarisch-niederländischer Buchbinder und Einbandforscher, hat den Einbänden der Nag Hammadi Codizes ein Kapitel seines Werks The archaeology of medieval bookbinding gewidmet. Dort sind die Einbände, die übrigens alle unterschiedlich sind, so genau beschrieben, dass man sie nacharbeiten kann. Was ich getan habe. Dabei hat es mich aber nicht interessiert, akkurate Repliken herzustellen (das haben schon andere getan), sondern ich wollte die älteste bisher bekannte Bucheinbandform mit modernen Materialien umsetzen. Das ist nicht so abwegig, denn damals hat das frühe Christentum mit der Tradition der Schriftrolle gebrochen und den neumodischen Codex für sich entdeckt, um sich vom Althergebrachten abzusetzen. Damals war der Codex der letzte Schrei – wie kann man das für den heutigen Betrachter übersetzen? Vielleicht mit modernem Korkstoff statt Leder, punktkariertem Papier statt Papyrus? Hier ist eine Übersicht:

Material fürum 350 n. Chr.um 2020 n. Chr.
UmschlagLederKorkstoff, mit Japanpapier kaschiert
SeitenPapyruspunktkariertes Papier
HeftungLederschnurKnopflochseide
VerschlussbänderLederKork
Futterbeschriebener PapyrusBristol-Karton
Spiegelunbeschriebener PapyrusBuchgewebe
VerstärkungsstreifenLederKorkstoff

Wie Sie sehen, ist mein moderner Nag Hammadi Codex nicht vegan, denn ich wollte bei Naturmaterialen bleiben und habe die starke Knopflochseide zum Heften verwendet.

Ich habe zwei Codizes hergestellt: Codex A (Korkstoff mit Goldadern, Buchgewebe petrol) und Codex B (Korkstoff natur, Buchgewebe taubenblau), beide 14,3 x 21,1 cm groß mit 60 Seiten (30 Blatt) punktkariertem Papier der Marke Clairefontaine (90 g/m²).

Detailansichten der zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Weiterführende Literatur und Links:
Szirmai, J. A.: The archaeology of medieval bookbinding. Aldershot: Ashgate, 1999

Mehr Informationen zur Fundgeschichte und zum Inhalt der Codizes finden Sie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nag-Hammadi-Schriften
Zur Bedeutung der Textfunde für die Wiederentdeckung des Gnostischen Christentums, inklusive einiger Fotos der 1945 gefundenen Codizes: https://www.biblicalarchaeology.org/daily/biblical-topics/post-biblical-period/the-nag-hammadi-codices

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