17/05/2021

Wettbewerbe

2011 habe ich meine autodidaktische Ausbildung zur Buchbinderin begonnen. Zehn Jahre später könnte man annehmen, dass ich inzwischen etwas kann, also habe ich beschlossen, ab 2021 an Wettbewerben teilzunehmen.

Hier sind neben allgemeinen Wettbewerben für Kunsthandwerker die Wettbewerbe speziell für Buchbinder interessant. Betrachtet man allerdings bei Letzteren die preisgekrönten Werke, kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, Bücher müssten zwingend in Leder oder Pergament eingebunden werden, um preiswürdig zu sein (aber es gibt zum Glück auch Ausnahmen!). Da ich nicht mit solchen Materialien tierischen Ursprungs arbeiten möchte, die meiner Auffassung nach weder zeitgemäß noch unbedingt technisch notwendig sind, von der Nachhaltigkeit ganz zu schweigen, vergeht mir da die Inspiration.

Glücklicherweise gibt es aber noch andere Gelegenheiten, sein eventuell vorhandenes Können zu zeigen. Eine hat sich bereits Ende letzten Jahres ergeben: Ein internationaler Wettbewerb der Stichting Handboekbinden (Niederländische Stiftung für Handbuchbinden).

Copyright: Stichting Handboekbinden

Bei diesem Wettbewerb geht es darum, eine Box für ein gekauftes, industriell gebundenes (Lieblings-)Buch herzustellen. Da die Wertung der Jury noch nicht abgeschlossen ist, kann ich meinen Wettbewerbsbeitrag hier noch nicht vorstellen, werde dies aber nachholen, sobald es möglich ist.

In meinem Bundesland Rheinland-Pfalz gibt es einen Staatspreis für das Kunsthandwerk, der alle drei Jahre ausgeschrieben wird. Bis zur nächsten Ausschreibung ist es noch eine Weile hin, aber im Nachbar-Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde gerade der Staatspreis MANUFACTUM vergeben. Eine der Preisträgerinnen ist die Buchbinderin Theresa Wedemeyer aus Münster. Sie hat geschafft, was in Rheinland-Pfalz seit 1970 noch keiner Buchbinderin und keinem Buchbinder gelungen ist, nämlich einen Staatspreis zu gewinnen (dafür haben seit 1960 ein Buchbinder und drei Buchbinderinnen den Förderpreis, und seit 1998 eine Buchbinderin den Preis des Handwerks gewonnen). Aber auch Frau Wedemeyers Werk ist in Leder gebunden.

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03/05/2021

Ein moderner Nag Hammadi Codex

Zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Im Jahr 1945 stießen Bauern beim Graben nahe des ägyptischen Dorfes Nag Hammadi auf einen großen, verschlossenen Tonkrug. Was mochte da wohl drin sein? Nach anfänglichem Zögern (Es könnte ja etwas Gefährliches sein!) überwog die Neugier (Es könnte ja ein Goldschatz sein!), aber heraus fielen nur einige äußerst alte, in Leder gebundene Bücher oder dicke Hefte.
Eine ganze Abenteuergeschichte später, in der die Hefte beinahe im Ofen gelandet wären, auseinandergenommen und teilweise auf verschlungenen Wegen verkauft worden waren, versammelten sich fast alle mehr oder minder wohlbehalten im Koptischen Museum in Kairo. Die dicken Hefte waren nämlich ein ganz besonderer Schatz: Dreizehn um 350 n. Chr. geschriebene Bücher mit frühchristlichen gnostischen Texten, teilweise zuvor komplett unbekannt, und die ältesten bisher entdeckten Codizes im original erhaltenen Einband. Religiöse Texte standen damals üblicherweise auf Schriftrollen, aber im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. begann man, Codizes zu verwenden; also das, was man heute unter Büchern versteht. Natürlich waren die meisten Forscher wegen der Texte ganz aus dem Häuschen, nur eine kleine Handvoll Sonderlinge genannt Buchbinder interessierte sich überhaupt für das Drumherum.

János Alexander Szirmai, ungarisch-niederländischer Buchbinder und Einbandforscher, hat den Einbänden der Nag Hammadi Codizes ein Kapitel seines Werks The archaeology of medieval bookbinding gewidmet. Dort sind die Einbände, die übrigens alle unterschiedlich sind, so genau beschrieben, dass man sie nacharbeiten kann. Was ich getan habe. Dabei hat es mich aber nicht interessiert, akkurate Repliken herzustellen (das haben schon andere getan), sondern ich wollte die älteste bisher bekannte Bucheinbandform mit modernen Materialien umsetzen. Das ist nicht so abwegig, denn damals hat das frühe Christentum mit der Tradition der Schriftrolle gebrochen und den neumodischen Codex für sich entdeckt, um sich vom Althergebrachten abzusetzen. Damals war der Codex der letzte Schrei – wie kann man das für den heutigen Betrachter übersetzen? Vielleicht mit modernem Korkstoff statt Leder, punktkariertem Papier statt Papyrus? Hier ist eine Übersicht:

Material fürum 350 n. Chr.um 2020 n. Chr.
UmschlagLederKorkstoff, mit Japanpapier kaschiert
SeitenPapyruspunktkariertes Papier
HeftungLederschnurKnopflochseide
VerschlussbänderLederKork
Futterbeschriebener PapyrusBristol-Karton
Spiegelunbeschriebener PapyrusBuchgewebe
VerstärkungsstreifenLederKorkstoff

Wie Sie sehen, ist mein moderner Nag Hammadi Codex nicht vegan, denn ich wollte bei Naturmaterialen bleiben und habe die starke Knopflochseide zum Heften verwendet.

Ich habe zwei Codizes hergestellt: Codex A (Korkstoff mit Goldadern, Buchgewebe petrol) und Codex B (Korkstoff natur, Buchgewebe taubenblau), beide 14,3 x 21,1 cm groß mit 60 Seiten (30 Blatt) punktkariertem Papier der Marke Clairefontaine (90 g/m²).

Detailansichten der zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Weiterführende Literatur und Links:
Szirmai, J. A.: The archaeology of medieval bookbinding. Aldershot: Ashgate, 1999

Mehr Informationen zur Fundgeschichte und zum Inhalt der Codizes finden Sie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nag-Hammadi-Schriften
Zur Bedeutung der Textfunde für die Wiederentdeckung des Gnostischen Christentums, inklusive einiger Fotos der 1945 gefundenen Codizes: https://www.biblicalarchaeology.org/daily/biblical-topics/post-biblical-period/the-nag-hammadi-codices

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19/04/2021

Japanische Muster (5)

Traditionelle japanische Muster (wagara) sind nicht einfach nur schön anzusehen, sie haben vor allem Bedeutungen. Welche das sind und welche meiner Bezugspapiere solche Botschaften tragen, das möchte ich in dieser Serie von Blogbeiträgen erforschen.

In Teil 5 geht es gleich um zwei etwas weniger bekannte Muster:

Ryuusui und Kumo

Chiyogami mit Darstellung von fließendem Wasser, goldenen Wolken und blühenden Pflaumenbäumen

Ryuusui, das die Wirbel fließenden Wassers darstellt, ist eines der ältesten Muster in Japan, das sich bereits auf Bronzeglocken aus der Yayoi-Zeit findet (ca. 3. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). Ab dem Mittelalter taucht es auf Rollbildern und auch auf Kleidungsstücken auf. In der Edo-Zeit (1603 bis 1868) wurde es oft benutzt, um auf Textilien mit anderen Motiven zusammen stilisierte Landschaften zu bilden. Später hat man auf diese Weise auch reale Landschaften oder Szenen aus Gedichten und Geschichten nachgebildet (Quelle). In meinem Detailausschnitt oben und in der größeren Ansicht unten sehen wir das fließende Wasser zusammen mit blühenden Pflaumenbäumen (die Ume aus der letzten Folge) und goldenen Wolken.
Die Wolken, auf Japanisch 'Kumo', sind neben dem Wasser das am häufigsten in ganz Asien verwendete Design. Wie viele andere Motive auch, haben die Japaner es zuerst aus China übernommen. Neben den Wolken als Teil eines Landschaftsmusters gibt es auch Variationen, die nur aus Wolkenformen bestehen, sowie Wolken kombiniert mit glücksbringenden Motiven (Quelle). Vielleicht sind Wolkenmotive deshalb so beliebt, weil Wolken von den Bergen aufsteigen – und auf den Bergen wohnen in Japan die Shinto-Götter (Quelle). Auch die Flüsse, Grundlage allen Lebens, kommen laut asiatischer Folkore aus den Bergen (Quelle).
Neben der Assoziation mit den Göttern kann Ryuusui zudem auch Kontinuität und die Zukunft symbolisieren, während Kumo für die Hoffnung und den Wandel steht (Quelle).

Innenansicht des Etuis 'Goldener Fluss' mit Darstellung von fließendem Wasser, goldenen Wolken und blühenden Pflaumenbäumen

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