03/05/2021

Ein moderner Nag Hammadi Codex

Zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Im Jahr 1945 stießen Bauern beim Graben nahe des ägyptischen Dorfes Nag Hammadi auf einen großen, verschlossenen Tonkrug. Was mochte da wohl drin sein? Nach anfänglichem Zögern (Es könnte ja etwas Gefährliches sein!) überwog die Neugier (Es könnte ja ein Goldschatz sein!), aber heraus fielen nur einige äußerst alte, in Leder gebundene Bücher oder dicke Hefte.
Eine ganze Abenteuergeschichte später, in der die Hefte beinahe im Ofen gelandet wären, auseinandergenommen und teilweise auf verschlungenen Wegen verkauft worden waren, versammelten sich fast alle mehr oder minder wohlbehalten im Koptischen Museum in Kairo. Die dicken Hefte waren nämlich ein ganz besonderer Schatz: Dreizehn um 350 n. Chr. geschriebene Bücher mit frühchristlichen gnostischen Texten, teilweise zuvor komplett unbekannt, und die ältesten bisher entdeckten Codizes im original erhaltenen Einband. Religiöse Texte standen damals üblicherweise auf Schriftrollen, aber im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. begann man, Codizes zu verwenden; also das, was man heute unter Büchern versteht. Natürlich waren die meisten Forscher wegen der Texte ganz aus dem Häuschen, nur eine kleine Handvoll Sonderlinge genannt Buchbinder interessierte sich überhaupt für das Drumherum.

János Alexander Szirmai, ungarisch-niederländischer Buchbinder und Einbandforscher, hat den Einbänden der Nag Hammadi Codizes ein Kapitel seines Werks The archaeology of medieval bookbinding gewidmet. Dort sind die Einbände, die übrigens alle unterschiedlich sind, so genau beschrieben, dass man sie nacharbeiten kann. Was ich getan habe. Dabei hat es mich aber nicht interessiert, akkurate Repliken herzustellen (das haben schon andere getan), sondern ich wollte die älteste bisher bekannte Bucheinbandform mit modernen Materialien umsetzen. Das ist nicht so abwegig, denn damals hat das frühe Christentum mit der Tradition der Schriftrolle gebrochen und den neumodischen Codex für sich entdeckt, um sich vom Althergebrachten abzusetzen. Damals war der Codex der letzte Schrei – wie kann man das für den heutigen Betrachter übersetzen? Vielleicht mit modernem Korkstoff statt Leder, punktkariertem Papier statt Papyrus? Hier ist eine Übersicht:

Material fürum 350 n. Chr.um 2020 n. Chr.
UmschlagLederKorkstoff, mit Japanpapier kaschiert
SeitenPapyruspunktkariertes Papier
HeftungLederschnurKnopflochseide
VerschlussbänderLederKork
Futterbeschriebener PapyrusBristol-Karton
Spiegelunbeschriebener PapyrusBuchgewebe
VerstärkungsstreifenLederKorkstoff

Wie Sie sehen, ist mein moderner Nag Hammadi Codex nicht vegan, denn ich wollte bei Naturmaterialen bleiben und habe die starke Knopflochseide zum Heften verwendet.

Ich habe zwei Codizes hergestellt: Codex A (Korkstoff mit Goldadern, Buchgewebe petrol) und Codex B (Korkstoff natur, Buchgewebe taubenblau), beide 14,3 x 21,1 cm groß mit 60 Seiten (30 Blatt) punktkariertem Papier der Marke Clairefontaine (90 g/m²).

Detailansichten der zwei Nag Hammadi Codizes aus modernen Materialien

Weiterführende Literatur und Links:
Szirmai, J. A.: The archaeology of medieval bookbinding. Aldershot: Ashgate, 1999

Mehr Informationen zur Fundgeschichte und zum Inhalt der Codizes finden Sie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nag-Hammadi-Schriften
Zur Bedeutung der Textfunde für die Wiederentdeckung des Gnostischen Christentums, inklusive einiger Fotos der 1945 gefundenen Codizes: https://www.biblicalarchaeology.org/daily/biblical-topics/post-biblical-period/the-nag-hammadi-codices

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