22/04/2024

De glutinum Exkurs

Hilfe, mein Papier wellt sich!

Hier kommt nun die andere Geschichte, die das nächste Mal erzählt werden sollte. Es ist eine lange Geschichte, also holen Sie sich erst einmal etwas zu Trinken...

Wenn Sie je ein Stück Papier oder sehr dünnen Karton irgendwo angeklebt und nicht gerade Alleskleber verwendet haben wie ich damals als bastelndes Kind, kennen Sie das bestimmt: Das Papier fängt an, sich mehr oder minder stark zu wellen oder die Ecken einzurollen. Außerdem wird es weich. Das ist ganz normal und liegt daran, dass jeder Kleber, der keine stechenden Dämpfe entwickelt, Wasser als Lösungsmittel enthält. Die klebenden Bestandteile müssen ja in einer Substanz gelöst sein, die nach dem Auftragen eintrocknen kann, wodurch der Kleber fest wird.

Wie viel Wasser in einem Klebstoff steckt kann sehr unterschiedlich sein. Ein Klebestift beispielsweise enthält sehr wenig, in Kleister ist dagegen sehr viel Wasser. Und auch Papier reagiert unterschiedlich auf ein Anfeuchten durch Klebstoff. Es gibt Papiersorten, die werden sofort sehr weich, reißen ein oder fangen gar an, sich aufzulösen. Andere sind da robuster, rollen sich aber vielleicht sofort zu einem Rohr zusammen. Wieder andere lassen sich auch durch die größte Feuchtigkeit nicht beeindrucken und bleiben flach.

Woher kommt das? Papier besteht aus vielen kleinen Fasern. So gut wie alle Papiere bei uns werden industriell auf großen Maschinen hergestellt. Bei solchen Papieren sind die Fasern alle schön ordentlich nebeneinander angeordnet und zeigen in die gleiche Richtung. Das kann man sich vorstellen wie eine Bambusmatte oder ein Floß aus Baumstämmen, nur eben sehr viel kleiner. Die Richtung, in die die Fasern zeigen, nennt man die Laufrichtung des Papiers. Diese Laufrichtung ist wichtig beim Kleben und deshalb muss man herausfinden, wie sie verläuft.

Eine Bambusmatte können Sie nur in eine Richtung aufrollen, nämlich so, wie die Stäbe liegen. Ein Blatt Papier können Sie dagegen sowohl in die Laufrichtung der Fasern als auch dagegen aufrollen, aber gegen die Laufrichtung gibt es mehr Widerstand. Das können Sie selbst ausprobieren: Nehmen Sie sich ein Blatt Druckerpapier im Format DIN A4 und biegen Sie es. Wenn Sie die beiden langen Seiten aufeinander zubewegen, biegen Sie das Blatt in der Laufrichtung und spüren wenig Widerstand. Bewegen Sie die beiden kurzen Seiten aufeinander zu, spüren Sie mehr Widerstand, denn jetzt biegen Sie gegen die Laufrichtung. Das kann man mehrmals hintereinander machen, dann fühlt man den Unterschied besser. Wenn Sie noch nichts fühlen können, probieren Sie es mit einem dickeren und festeren Papier, da sind die Unterschiede deutlicher. Und wenn Sie sich fragen, woher ich weiß, wie die Laufrichtung bei Ihrem Papier ist: Bei Druckerpapier und anderem Papier im Format DIN A4 verläuft die Laufrichtung für gewöhnlich parallel zu den langen Seiten.

Wenn nun die Feuchtigkeit eines Klebstoffs auf das Papier trifft, quellen die Papierfasern auf und werden dicker. Unser Blatt DIN A4 Papier mit Laufrichtung parallel zu den langen Seiten ist dann immer noch 29,7 cm hoch aber nicht mehr genau 21 cm breit. Bei kleinen Papierstückchen merkt man dieses Dicker-Werden nicht so sehr, aber größere Stücke muss man schon manchmal um einige Millimeter schmaler zuschneiden, damit es nach dem Ankleben passt. Buchbinderinnen und Buchbinder nennen das Dehnung und müssen durch Erfahrung lernen, wie stark sich ihr Material beim Kleben dehnt und ab wann man es schmaler zuschneiden muss.

Dass sich Papier beim Kleben wellt und einrollt, kommt daher, dass der Klebstoff nur auf einer Seite des Papiers aufgetragen wird. Die Fasern auf dieser Seite des Papiers werden dicker, während die Fasern auf der anderen Seite noch trocken und dünner sind. Diese einseitige Ausdehnung bewirkt das Einrollen. Übrigens: Sollten Sie es einmal nicht schaffen, die Laufrichtung eines Papier zu bestimmen, so geht das ganz einfach, wenn man ein kleines Reststück davon einseitig anfeuchtet. Das Papier wird sofort beginnen, sich einzurollen. Schauen Sie in Gedanken durch das sich formende Rohr und Sie sehen in die Laufrichtung des Papiers.

Sich wellendes oder einrollendes Papier kann man unbesorgt aufkleben, denn die Wellen verschwinden, sobald man das Papier glatt gestrichen hat. Haben Sie aber Papier auf ein anderes Papier oder einen eher dünnen Karton geklebt, können Sie bald Folgendes beobachten: Das mit Papier beklebte Material biegt sich deutlich erst in eine Richtung, wird nach einer Weile wieder flach, und biegt sich dann allmählich in die entgegengesetzte Richtung. Das kommt daher, dass die Feuchtigkeit aus dem Kleber langsam das Papier durchdringt. Ist sie auf der Rückseite angekommen, sind alle Fasern dicker geworden und das Papier hat sich insgesamt ausgedehnt und wellt sich nicht mehr. Beim Trocknen werden die dicker gewordenen Papierfasern wieder dünner. Da sie aber festgeklebt sind, können sie sich nicht mehr frei bewegen und ziehen am anderen Material, was es verformt. Voilà, das Geheimnis der krummen und verbogenen Bastelarbeiten!

Buchbinder und Buchbinderinnen nennen das Zug und wissen auch, was man gegen die Verformungen unternehmen kann. Zunächst muss man wissen, dass unterschiedlich dicke Papiere auch unterschiedlich starken Zug entwickeln. Dann: Je mehr Wasser im Kleber war, desto stärker wirkt sich der Zug aus. Und schließlich: Je dünner das Material, auf dem das Papier klebt, desto eher sieht man eine Verformung.

Im Grunde genommen helfen drei Dinge.
1. Zug mit Gegenzug neutralisieren: Auf die Rückseite des beklebten Materials wird ein Papier aufgeklebt, das einen genauso starken Zug entwickelt. Das muss nicht dasselbe Papier sein wie auf der Vorderseite, sollte aber die gleiche Grammatur haben, also genauso dick und fest sein. Zum Finden einer geeigneten Alternative muss man vielleicht ein paar Versuche machen, indem man Probestücke beklebt. Nach dem völligen Durchtrocknen muss das Probestück flach liegen, dann ist der Zug durch einen Gegenzug neutralisiert.
2. Laufrichtung beachten: Das alles funktioniert nur, wenn das Papier auf der Vorderseite, der beklebte Untergrund und das Papier auf der Rückseite die gleiche Laufrichtung haben. Wurde ein Teil versehentlich gedreht, so dass nicht bei allen die Fasern in die gleiche Richtung zeigen, erhält man am Ende etwas, das einem Schuhlöffel gleicht. Und den bekommt man nicht flach, egal was man macht.
3. Unter Druck trocknen lassen: Wenn Sie eine flache Pappe beklebt haben, also vielleicht ein Bild, ein Schild oder eine Buchdecke, müssen sie das alles unter Druck trocknen lassen, damit sich nichts verbiegen kann. Dazu packt man das fertig beklebte Stück zwischen zwei saubere, trockene Pappen und stellt etwas Schweres oben drauf, vielleicht ein großes Buch oder ein Gewicht (ich habe mehrere alte boesner-Kataloge, die sind schön schwer). Das lässt man am besten über Nacht ganz durchtrocknen.
Das muss man nicht tun, wenn man beispielsweise eine Schachtel beklebt hat. Bei einer Schachtel entwickelt das Bezugspapier den Zug, das Futter sorgt für den Gegenzug, und die Schachtelseiten halten sich gegenseitig fest, so dass sich nichts verbiegen kann.

Wie kommt es aber, dass sich manches Papier überhaupt nicht rollt oder wellt, wenn es angefeuchtet wird? Das ist dann entweder ein handgeschöpftes Papier oder ein maschinell hergestelltes Papier, das sich wie ein handgeschöpftes verhält. Bei handgeschöpftem Papier liegen die Fasern nicht ordentlich nebeneinander, sondern wild durcheinander und deshalb gibt es keine Laufrichtung. Ohne Laufrichtung werden die Fasern zwar auch dicker, wenn sie feucht werden, aber da alle durcheinander liegen ist die Ausdehnung regelmäßig, wodurch das Papier flach liegen bleibt. Das wird Ihnen nicht oft begegnen, es sei denn Sie arbeiten mit Büttenpapier oder Japanpapier.

Zum Schluss dieses sehr langen Blogbeitrags mit geballtem Buchbinderwissen noch zwei Tipps.

Wenn Sie einmal ein Papier kleben möchten, dass sich besonders heftig einrollt, so hilft es, die Rückseite leicht zu befeuchten bevor man den Kleber aufträgt. Probieren Sie aber zuvor an einem Reststück aus, ob das Papier das verträgt. Efalin und Elefantenhaut kann man beispielsweise eine halbe Stunde vorher unter feuchte Schwammtücher legen.

Wenn Sie gar keine Lust haben, sich mit den Widrigkeiten des Klebens herumzuschlagen, benutzen Sie säurefreies doppelseitiges Klebeband. Das ist bei manchen Papieren (z.B. Transparentpapier) die einzige Möglichkeit, sie sauber zu kleben. Doppelseitiges Klebeband ist keineswegs eine Notlösung für Dummies. Es wird auch von Profis geschätzt, denn es bietet beachtliche Vorteile: Die Klebestelle bleibt trocken und ist sofort belastbar, nichts wellt oder verzieht sich, und Sie müssen eigentlich noch nicht einmal auf gleiche Laufrichtungen achten. Aber wie so oft ist auch hier nicht ein Kleber für alle Anwendungen geeignet, weshalb es mit den Klebstoffgeschichten hier auf dem Blog auch bald weitergeht.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.