20/11/2023

Schenken einmal ganz anders betrachtet

Schon lange geplant, hat es zum Jubiläum endlich geklappt: Ich spreche mit einem Menschen mit Fachwissen darüber, wie in anderen Gesellschaften als der unseren das Schenken gehandhabt wird. Unsere Lebenswelt ist ja nicht die einzig mögliche, und zwecks Horizonterweiterung ist es doch immer interessant zu sehen, was andere Menschen so tun.

Schwarzweiße Katze sitzt auf einer karierten Wolldecke einem Menschen auf dem Schoß und wird gestreichelt
Weil mein Gegenüber anonym bleiben will, wenden wir einen filmischen Trick an und zeigen nur die Katze, die auf dem Schoß sitzt!

Woher hast Du Dein Wissen über andere Gesellschaften?

"Aus der Ethnologie, mein Fachgebiet. Ethnologen ruinieren ihren ökologischen Fußabdruck und fahren in die Welt hinaus, um bei fremden Völkern zu forschen und vor Ort Daten zu sammeln, damit man ihre Kultur und ihr Wissen verstehen und bewahren kann. Damit versteht man auch immer die eigene Kultur ein bisschen besser. Natürlich kann man als Ethnologe auch gleich seine eigene Kultur erforschen, aber das machen leider noch nicht sehr viele von uns."

Schenkt man anderswo anders als bei uns?

"Also, was und wem geschenkt wird und zu welchem Zweck ist sehr verschieden. Generell kann man sagen: Schenken erschafft Beziehungen. Das ist auch die Kernaussage bei Marcel Mauss (ein Franzose, der sich 'Mohs' ausspricht) in seinem Werk Essai sur le don (dt.: Die Gabe) von 1923, auf das sich noch heute alle beziehen, die über Geschenkaustausch schreiben. Da sehen wir gleich, dass man bei uns Menschen beschenkt, mit denen man bereits eine Beziehung hat, also Kinder, Familie und Freunde. Wir haben nämlich das ursprünglich beziehungsschaffende Schenken im sozialen Zusammenleben weitgehend verloren.

Was wir aber noch haben, ist, dass eine Gabe erwidert werden muss. Also, jedes Geschenk verlangt zumindest nach einer Reaktion. Mauss fasst das zusammen als: Geben – Annehmen – Erwidern. In den von ihm untersuchten Kulturen gibt es einen verbindlichen Umlauf von Gaben, der dazu führt, dass sich extreme Unterschiede im Privateigentum (wie wir sie haben) gar nicht erst aufbauen können. Mauss beschreibt Kulturen eigentlich ohne privates Eigentum, denn alles, was man bekommt, muss man in einem festgelegten Zeitrahmen auch wieder weitergeben. Insofern heißt Schenken Reichtümer zu verteilen."

Wie genau funktioniert das?

"Die Bewohner der Trobriand-Inseln in Melanesien, nördlich von Australien, machen es so: Diese Inseln sind ungefähr kreisförmig angeordnet. Die Einwohner einer Insel fahren mit dem Boot zu einer ihrer Nachbarinseln. Dort treiben sie Handel, kommen unter neue Leute und sehen Dinge, die es auf ihrer eigenen Insel nicht gibt. Hauptzweck der Reise ist aber der Geschenketausch, das Kula-Ritual, mit einem festgelegten Tauschpartner. Verschenkt werden immer entweder Armreifen aus einer weißen Muschel oder Halsketten aus roten Muschelplättchen. (Hier gibt's Fotos.) Und diese Dinge machen in entgegengesetzter Richtung die Runde durch die Inselgruppe, denn sie werden immer weitergegeben: die Armreifen gegen den Uhrzeigersinn, die Ketten im Uhrzeigersinn.

Die Kette gebe ich also meinem Tauschpartner von der Insel rechts von mir, den Armreif meinem Partner von der Insel links von mir. Die Bewohner der anderen Inseln machen es ebenso. Das ist ziemlich genial, denn es stellt sicher, dass es keine direkten Vergleichsmöglichkeiten gibt (so im Sinne von: "Meine Kette ist aber schöner als Deine!").

Es kommt aber noch besser! Man muss wissen, dass diese Geschenke sehr wertvoll und bekannt sind, eigene Namen und Geschichten haben. Jeder weiß, wer gerade welches Geschenk bekommen hat und das wertet das gesamte Dorf auf. Und trotzdem ist mein Tauschpartner auf der Insel rechts anfangs überhaupt nicht begeistert von der wertvollen Kette, die ich verschenken will, sondern weist meine Gabe ab. Da wird tatsächlich gesagt: "So einen Mist will ich nicht!". Ich muss es noch einmal versuchen, und erst beim dritten Anlauf nimmt er meine Gabe eher widerwillig an. Damit kehren sie sehr schön die üblichen Machtverhältnisse zwischen dem Gebenden und dem Beschenkten um."

Stell Dir das mal unter'm Weihnachtsbaum vor! Sagt das Enkelkind zur Oma: "Bah, was ist denn das? Das neueste iPhone – so'n Quatsch will ich nicht!"

"Eben! Aber beim Kula-Ritual achtet man sehr auf Ausgeglichenheit und Gerechtigkeit, und die durch die Inselgruppe wandernden Geschenke verknüpfen wortwörtlich die Bewohner einer Insel mit der der anderen und erschaffen so überhaupt erst eine Gesellschaft der Trobriand-Inseln.

So, beim melanesischen Kula-Ritual wird also Reichtum verteilt, so dass jeder einmal etwas davon hat. Schenken kann aber auch heißen, Reichtümer zu zerstören. Mauss beschreibt da den Potlatch bei den nordwest-amerikanischen Ureinwohnern. Das ist eine kriegerische Gesellschaft und der Potlatch ein bedeutendes religiöses und rituelles Ereignis, aber deutlich ein Überbietungswettbewerb. Es ist wichtig, den jeweils anderen so lange mit Gaben zu überhäufen, bis einer nicht mehr erwidern kann, also dass einer mehr gibt als der andere. (Da fallen Dir bestimmt die 'Geschenkeschlachten' zu Weihnachten ein!) Die Gaben werden dem anderen aber nicht nur überreicht, manche werden stattdessen zerstört. Beispielsweise werden da wertvolle Kupferplatten ins Meer geworfen, Wolldecken verbrannt oder auch Schlittenhunde getötet. Bei den Kwakiutl, einem Stamm von der pazifischen Nordwestküste, heißt der Potlatch deshalb auch 'Das Eigentum töten'."

Und warum machen sie so etwas sinnloses?

"Weil das für sie nicht sinnlos ist! Man darf sich das jetzt nicht so vorstellen, dass alle Leute sich regelmäßig bei einem Potlatch gegenseitig in den Ruin treiben. Nur Häuptlinge veranstalten einen Potlatch, und nur zu ganz besonderen Anlässen, so etwa ein- bis zweimal im Leben.

Warum macht das für sie Sinn? Erstmal basiert das Wirtschaftsdenken der nordwest-amerikanischen Ureinwohner auf Überfluss, der regelmäßig reduziert werden muss, damit das Ganze nicht überhand nimmt, denn es ist mehr als genug für alle da. Bei uns im Westen steht eher der Mangel im Zentrum. Da kann man jetzt darüber diskutieren, ob das eine oder das andere der Wahrheit entspricht, aber es soll ja auch hier Künstler geben, die ihre Werke verbrennen, wenn sie sie nicht verkaufen können.
Ein weiterer Grund ist, dass beim Potlatch der eigentliche Adressat des Gebens – Annehmens – Erwiderns nicht mein menschliches Gegenüber ist, sondern die Götter, die mir diesen Reichtum, diesen Überfluss geschenkt haben. Bei den Kwakiutl nennt man die Kupferplatten, die ins Meer geworfen werden, deshalb 'Bringer von Kupferplatten'. Man gibt, und erwartet (von den Göttern!) mehr Gaben im Gegenzug.
Übrigens war der Potlatch früher eine Zeit lang in den USA und Kanada verboten. Und da haben einige Häuptlinge ihren Potlatch in die Weihnachtszeit verlegt, als Bescherung getarnt."

Dass das überhaupt möglich ist, sagt doch einiges über Weihnachten, oder? Vielen Dank für das interessante Gespräch und für Deine Zeit!

Natürlich konnten wir ein so bedeutendes Thema wie den Geschenketausch in verschiedenen Kulturen nur oberflächlich ankratzen. Wer mehr wissen will: Marcel Mauss' Die Gabe ist beim Suhrkamp Verlag erschienen oder kann in Bibliotheken ausgeliehen werden.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine schöne Adventszeit, wenn sie nächste Woche beginnt!

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.