Früher hat es in den Buchbindereien ganz charakteristisch gerochen (manche behaupten sogar, es hat gestunken). Das kam vom Leimtopf, der auf einer Warmhalteplatte auf seinen Einsatz gewartet hat. Darin war ein Glutinleim, meistens Knochenleim, und der war genauso unvegan, wie er sich anhört.
Über Knochenleim gibt es die tollsten Anekdoten, beispielsweise wie sich die Leute damit regelmäßig, aber unfreiwillig, die Finger zusammengeklebt und die Kleidung versaut haben. Auch gab es Buchbinderschürzen, an denen man sich die Finger abwischen konnte, die dann nach einer Weile von den Leimspuren so steif wurden, dass sie von alleine stehen konnten. All das habe ich allerdings nie selbst erfahren, denn ich wollte vegan arbeiten, und da kommt keinerlei Glutinleim in Frage.
Glutinleime gibt es schon sehr, sehr lange. Vermutlich haben bereits die alten Sumerer* aus Tierhäuten Leim produziert. Im Alten Ägypten wurde er in der Möbelherstellung verwendet, ebenso bei den Alten Griechen und Römern. Im Mittelalter haben die glutinatores damit gearbeitet (das waren die Buchbinder in den Klöstern), und im Musikinstrumentenbau ist er bis heute unverzichtbar. Eigentlich überall, wo es etwas zu kleben gab und die Klebkraft von Kleister nicht ausreichte, kam bis in die 1950er Jahre der Glutinleim zum Einsatz. Dann wurde Dispersionsklebstoff erfunden, der sehr viel einfacher zu verarbeiten ist.
Glutinleim kauft man in Form von Granulat, das erst einmal über Nacht in Wasser eingeweicht werden muss. Am nächsten Tag muss man den Leim erhitzen (aber nur bis 65 Grad) und warmhalten, denn er lässt sich nur in warmem Zustand verarbeiten. Das ist vergleichsweise umständlich, bringt aber Vorteile, die besonders bei Restaurierungen und – wie gesagt – im Musikinstrumentenbau geschätzt werden. Zum einen ist Glutinleim frei von Kunststoffverbindungen und hält auch ohne Konservierungsstoffe ewig. Es sind keine Lösungsmittel darin, der Leim ist pH-neutral und zu 100% biologisch abbaubar. Zum anderen klebt der Leim dauerhaft und stark. In den Pharaonengräbern hat man verleimte Holzmöbel gefunden, die heute immer noch halten. Und was das Wichtigste ist: Die Klebeverbindungen sind reversibel und lassen sich auch nach hunderten von Jahren ohne Schaden wieder lösen, einfach durch Anfeuchten und Erwärmen.
Wenn man sich anschaut, aus was dieser Leim besteht, wird klar, warum er so naturnah ist. Unter dem Oberbegriff Glutinleim werden zusammengefasst: Kochenleim (meistens aus Schweineknochen), Hautleim (aus Tierhäuten), Hasenleim (aus den Häuten von Hasen und Kaninchen), den schon aus der letzten Klebstoffgeschichte bekannten Fischleim (aus Fischgräten und -haut) und – der Kaviar unter den Glutinleimen – Hausenblasenleim aus der Schwimmblase des Beluga-Störs. Die Verwendung dieser Leime ist keineswegs auf die Musik-, Kunst- und Kunsthandwerkersphären begrenzt. Für mich überraschend war, dass Zündköpfe von Streichhölzern Hautleim als Bindemittel enthalten. Streichhölzer sind also nicht vegan.
Während die Traditionalisten und Restauratoren unter den Buchbindern immer noch mit Glutinleimen arbeiten, sind die meisten anderen auf wasserbasierte Dispersionsklebstoffe umgestiegen. Diese sind ein Produkt der Petrochemie, also erdölbasiert, was ich in diesem Fall akzeptabel finde, denn die Alternative wäre einer der gerade genannten Leime aus tierischen Nebenprodukten unbekannter Herkunft und ebenso unbekannten – und möglicherweise untragbaren – Haltungsbedingungen.
Für die Buchbinderei geeignete Dispersionsklebstoffe sind PVA- und EVA-Klebstoffe. PVA steht für Polyvinylacetat. PVA-Kleber klebt stark, bleibt nach dem Trocknen flexibel, ist sowohl für die manuelle als auch für die maschinelle Verarbeitung geeignet und sehr einfach anzuwenden: Deckel auf, umrühren, gegebenenfalls mit destilliertem Wasser verdünnen und auftragen. PVA-Kleber gibt es als 'normalen' Bastelleim, Profi-Buchbinderleim (ich habe Planatol BB), Holzleim (z.B. Ponal, der sich aber nur für Holz und nicht für das Buchbinden eignet, da er beim Trocknen zu unflexibel wird**) und, speziell für Restauratoren, reversiblen (lösbaren) PVA-Kleber.
Manche finden, dass PVA-Kleber ein bisschen chemisch müffelt. Denen empfehle ich EVA (Ethylen-Vinylacetat)-Kleber, der von Restauratoren bevorzugt wird, weil er keine Dämpfe emittiert, pH-neutral ist und genauso stark klebt und flexibel bleibt wie PVA-Kleber. Wenn Sie den einmal ausprobieren möchten: UHU Bastelkleber lösungsmittelfrei in der 90g Standtube hat eine Ethylen-Vinylacetat-Basis und ist problemlos im Supermarkt erhältlich.
Dispersionsklebstoffe benutzt man in der Buchbinderei zum Ableimen des Buchrückens, zum Kleben von Pappe auf Pappe beim Schachtelbau, für die Klebebindung und überall, wo eine starke Klebkraft gebraucht wird. Wer keinen reversiblen Klebstoff hat, muss aber aufpassen, dass der Klebstoff nicht auf dem Pinsel eintrocknet. Getrockneten Dispersionsklebstoff bekommt man schwer bzw. gar nicht wieder herausgewaschen. Da Dispersionsklebstoffe zwar farblos aber glänzend trocknen, sind auch eventuelle Kleckse auf dem Werkstück später so richtig schön auffällig und sollten daher sofort mit einem feuchten Lappen, Schwammtuch oder Ähnlichem abgewischt werden.
*Exkurs: Es ist erstaunlich, was die Sumerer alles erfunden haben. Von der Schrift und Arithmetik über Seife, heiße Würstchen und Bier, die Bürokratie bis hin zu künstlicher Bewässerung (und den daraus resultierenden Problemen) ist vieles dabei, was auch heute noch Teil unseres Lebens ist. Vielleicht haben die Sumerer das alles auch nicht selbst erfunden, aber sie waren die ersten, die davon schreiben konnten, so dass man es Jahrtausende später noch nachlesen kann. Vorausgesetzt, man kann Keilschrift lesen. Ja, frühe Hochkulturen sind spannend!
**Noch ein Exkurs: Ich habe schon in der letzten Klebstoffgeschichte geschrieben, dass grundsätzlich der Klebstoff der richtige ist, mit dem man gut arbeiten kann und der einem vertraut ist. In ihrem Buch 'Bücher binden' (2021, Haupt Verlag Bern) schreibt die schwedische Buchbinderin Monica Langwe beispielsweise, dass sie mit einem Holzleim arbeitet, obwohl es natürlich auch in Schweden Profi-Buchbinderleime gibt. Aber diesen speziellen Holzleim kennt sie seit ihrer Ausbildung, er ist leicht zu bekommen, funktioniert für sie und passt zu ihrer Arbeitsweise. Never change a winning team.
Woher ich das alles weiß:
In mittlerweile 13 Jahren Erfahrung mit Buchbinden habe ich so einiges an Wissen angesammelt. Zusätzlich habe ich für diesen Beitrag folgende Quellen konsultiert, wo es auch weiteres Hintergrundwissen für Interessierte gibt.
Allgemeine Übersicht über Glutinleime: https://de.wikipedia.org/wiki/Glutinleim
Für Laien sehr chemielastige Ausführungen über Dispersionsklebstoffe: https://de.wikipedia.org/wiki/Klebstoff#Dispersionsklebstoffe
Mehr zu den unterschiedlichen Glutinleimen, die man auch dort kaufen kann:
https://www.antikebeschlaege.eu/restaurierbedarf/leime/natuerliche-leime/
https://knochenleim.de/Was-sind-Glutinleime/
https://www.feinewerkzeuge.de/G10008.html
Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.