27/05/2024

De glutinum Kleister

In der letzten Klebstoffgeschichte haben wir gesehen, dass wasserhaltiger Klebstoff auf Papier dazu führt, dass man sich plötzlich mit der Laufrichtung, der Dehnung und dem Zug von Papier auseinandersetzen muss. Warum verwendet man dann überhaupt Kleister & Co. und nimmt nicht einfach Klebestift, Alleskleber oder Sprühkleber? Nun, tatsächlich kennen Profis Situationen, in denen es nichts besseres gibt als Kleister.

Buchbinder haben schon immer mit Kleister gearbeitet, denn er ist leicht verfügbar und unschlagbar billig. Man kann ihn aus gewöhnlichem Stärkemehl und kochendem Wasser sogar selbst herstellen. Wer nicht seinen eigenen Kleister kochen möchte, kann heutzutage Kleisterpulver aus Weizenstärke oder Methylcellulose zum Anrühren in kaltem Wasser kaufen, was nur einen Bruchteil von dem kostet, was man für andere Klebstoffe bezahlen muss. [Eine Anmerkung: Kleisterpulver aus Weizenstärke gibt es u. a. von der Schweizer Firma blancol als Fisch-Kleister. Der heißt aber nur so; vermutlich weil man beim Hersteller mit Sitz direkt am Zürichsee dachte, das sei doch ein hübscher passender Name. Wer vegan arbeiten will, muss hier aufpassen, denn es gibt auch einen Fischleim (engl. fish glue), der sehr wohl aus Teilen von Fischen gemacht wird.]

Neben der Tatsache, dass er die Werkstattkasse schont, hat Kleister aber auch Vorteile in der Verarbeitung. Er lässt sich mit dem Pinsel sehr leicht dünn und gleichmäßig verstreichen, auch auf großen Flächen und auf sehr dünnem Papier. Eventuelle Flecken kann man einfach mit einem feuchten Lappen spurlos abwischen. Übersehene Flecken trocknen farblos und vor allen Dingen matt auf, fallen also nicht so auf. Später lässt sich eine Klebung mit Kleister jederzeit wieder lösen, einfach mit Wasser. Kleister trocknet langsam und es dauert eine Weile, bis er anfängt, eine feste Verbindung zwischen den geklebten Materialien zu erzeugen. Das heißt, man kann in aller Ruhe sein Papier positionieren. Sitzt es doch nicht richtig, kann man es sogar ohne Schaden gleich wieder abziehen und neu aufkleben. Das ist nicht nur beim Tapezieren von Vorteil. Auch Buchbinder schätzen es, viel Zeit zu haben, um ein auf ein Stück Pappe geklebtes Papier glattzustreichen, um die Pappkante zu schlagen und schöne Ecken zu machen. Man muss nicht befürchten, dass der aufgetragene Kleister eintrocknet, bevor man fertig ist.

Klebestift, Alleskleber oder Sprühkleber können das nicht leisten. Alleskleber lässt sich nicht gut verstreichen, stinkt dabei und trocknet zu schnell. Ein Klebestift gibt einem nach dem Auftragen ganze 45 Sekunden bis der Kleber aushärtet (siehe technisches Dokumentationsblatt hier). In dieser Zeit kann man vielleicht Etiketten ankleben, aber nicht viel mehr. Und Sprühkleber ist meines Wissens überhaupt nicht für das Buchbinden geeignet, verursacht Kopfschmerzen und Übelkeit und lässt sich nicht punktgenau auftragen.

Aber natürlich hat Kleister neben den unbestreitbaren Vorteilen auch eine ganze Reihe von Nachteilen, der hohe Wassergehalt beispielsweise. Mit Kleister geklebte Stücke sind sehr feucht und müssen lange trocknen. Verwendet man Kleister beim Verbinden der Einbanddecke mit dem Buchblock, muss man gut aufpassen, dass die Feuchtigkeit nicht in den Buchblock dringt, denn sonst gibt es Wellen oder gar Wasserränder.

Kleister ist ein naturnahes Produkt. Das ist zwar gut für die Umwelt, aber er hält nicht lang. Besonders selbst gekochter Kleister wird schnell schlecht. Im Kühlschrank ist er abgedeckt etwa 2 Wochen haltbar. Und es gibt da gewisse Tierchen, die finden getrockneten Stärkekleister einfach lecker.

Die Klebkraft von Kleister ist eher auf der schwachen Seite. Stärkekleister eignet sich gut für dünnes Papier, das Verkleben von stärkerem Papier erfordert schon eine Beimischung von Dispersionskleber. Reine Methylcellulose klebt noch etwas schwächer. In der Buchbinderei verwendet man Methylcellulose darum gar nicht zum Kleben, sondern zum Füllen von Unebenheiten, zur Herstellung von Kleisterpapieren und zum Aufweichen von wasserlöslichen alten Kleberesten, Etiketten usw. Methylcellulose ist ideal dafür geeignet, da sie viel Wasser enthält, das nur sehr langsam abgegeben wird. Angerührte reine Methylcellulose wird nach ein paar Monaten schlecht, weswegen man keine großen Mengen vorbereiten sollte. Ich empfehle immer nur ein kleines bis sehr kleines Schraubglas voll anzurühren (mit destilliertem Wasser, leicht erhältlich z.B. beim dm-Markt) und das verschlossene Glas mit Datumsetikett im Kühlschrank aufzubewahren.

Wenn Sie nun wissen möchten, mit welchem Kleister ich arbeite: Ich persönlich verwende gar keinen Kleister – er ist mir einfach zu nass. Bei allen Arbeiten, bei denen Papier oder Buchgewebe aufgeklebt wird, benutze ich mit etwas destilliertem Wasser verdünnten Planatol Elasta N. Das ist ein Profi-Buchbinderleim, der einer Mischung aus Kleister und Dispersionskleber entspricht. Bei sonnigem Hochsommerwetter muss man sich damit etwas beeilen, aber ansonsten klebt er ausgezeichnet, lässt sich leicht verstreichen, wird nicht schlecht, zieht keine Insekten an und die Klebung bleibt flexibel und altert nicht.

Beim Kleben ist neben der Frage der grundsätzlichen Eignung viel von der eigenen Erfahrung und den eigenen Vorlieben abhängig. Eine von mir sehr geschätzte Buchbinderkollegin z.B. kann mit Planatol Elasta N nicht viel anfangen – er passt nicht zu ihrer Arbeitsweise. Der Klebstoff, mit dem man gut arbeiten kann und der einem vertraut ist, ist der richtige.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.

06/05/2024

Atelier Gry repariert, die Zweite

Kintsugi – Reparieren auf japanische Art

Am 11. März habe ich darüber geschrieben, wie ich in ein paar älteren Semestern unter meinen Werken rostende Magnete entdeckt und diese repariert habe. Dabei ging es mir darum, die rostenden Magnete durch intakte zu ersetzen und Stellen im Futterpapier mit Rostflecken möglichst unsichtbar gegen sauberes Futterpapier zu tauschen. Auch wenn es keine Flecken gab, musste ich das Futterpapier aufschneiden, um an die Magnete zu gelangen. Nach Abschluss der Reparatur musste dieser Schnitt wieder geschlossen werden. Ich denke, das ist mir gut gelungen. Wie Sie sehen können, sehen Sie nichts von einer Reparatur an meiner eigenen Box mit Häkel- und Strumpfstricknadeln!

Geöffnete Stiftebox mit saftgrünem Gewebebezug und einem Futter aus dem Chiyogami 'Ume', gefüllt mit mehreren Strumpfstricknadeln und Häkelnadeln.

Aber auch wenn man nichts sieht, fühlen kann man die reparierten Stellen schon und manchmal, je nach Lichteinfall, auch eine feine Linie sehen. Nach unserem westlichen Verständnis ist die reparierte Box somit mängelbehaftet und nicht mehr viel wert. Wäre es nicht meine eigene, ich könnte sie allerhöchstens noch als B-Ware verkaufen, obwohl die reparierte Box tatsächlich stärker geworden ist im Vergleich zu einem unversehrten Stück. Aber so ist unser westliches Verständnis: Nur perfekte und makellose Schönheit ist vollkommen – und das, obwohl wir alle wissen, dass Perfektion unmöglich ist und Makel sicher kommen werden. Bei unseren Gegenständen durch die unvermeidbaren Gebrauchsspuren und bei uns selbst durch Krankheit und das Altern.

Das Bestehen auf Vollkommenheit erzeugt ungeheuren psychischen Druck und eine Menge Müll, ist also inhärent keine gute Sache. Dabei könnten wir uns entspannen, indem wir die Sache mit der Schönheit nicht so eng sehen. Es geht nämlich auch anders.

In Japan kennt man das Konzept des wabi sabi. Kurz gesagt bedeutet es, dass Schönheit erst durch kleine Fehler interessant und 'vollkommen' wird, und dass Gebrauchsspuren erst den Charakter und den Wert eines Gegenstandes ausmachen. In anderen Worten: Erst die Macken machen die Teeschale perfekt. Aber was, wenn die Teeschale herunterfällt und kaputtgeht? Dem Shogun Ashikaga Yoshimasa ist im 15. Jahrhundert genau das passiert. Und es war eine besonders schöne und wertvolle chinesische Teeschale, die da in Scherben lag. Da es sich um seine Lieblingsschale handelte, hat er sie zum Reparieren zurück nach China geschickt. Sie wurde auch repariert, so wie das damals üblich war: Die Scherben wurden mit Hilfe von Metallklammern zusammengefügt. Dem Shogun hat das Ergebnis allerdings überhaupt nicht gefallen. Aber was das Schlimmste war: Aus der geklammerten Schale konnte er keinen Tee mehr trinken!

Ashikaga Yoshimasa hat daraufhin japanische Handwerker beauftragt, seine Schale noch einmal zu reparieren. Und diese haben die Scherben mit Hilfe von Urushi-Lack zusammengeklebt, aber nicht etwa unsichtbar. Dem Lack wurde Goldpulver hinzugefügt, so dass zwischen den Scherben goldene Fugen entstanden, die man nach Wunsch fein abschleifen oder auch erhaben stehen lassen konnte. Das war die Geburtsstunde von Kintsugi, was in etwa "Zusammenfügen mit Gold" bedeutet und heute immer noch praktiziert wird. Als westlicher Mensch muss man das einmal kurz verinnerlichen: Anstatt den Makel zu verbergen wird er hervorgehoben und gar vergoldet! Ashikaga Yoshimasa jedenfalls war mit der Reparatur hoch zufrieden und konnte seine Schale wieder zum Teetrinken benutzen.

So sieht Kintsugi aus. Dies ist eine Koreanische Teeschale (16. Jhd.) aus dem Ethnologischen Museum in Berlin mit den typischen goldenen Fugen in der rechten Hälfte.
Von Daderot - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45589849

Hat das alles irgendetwas mit Buchbinden zu tun? Ja, denn aus dem Konzept Kintsugi kann man Gewerk-übergreifend etwas lernen. Zum einen kann eine Reparatur, richtig ausgeführt, den Wert eines Gegenstandes bewahren und sogar erhöhen. Wobei es vom Kontext abhängt, was im Einzelfall 'richtig' ist. Zum anderen muss eine Reparatur nicht zwingend versteckt werden.

Ich arbeite gerade an einer neuen Reihe von Boxen, die zu Ehren der Bamberger Kaliko (die seit 2022 den Betrieb eingestellt hat) ganz mit Buchgewebe in mehreren harmonischen Farbtönen bezogen sein soll. Dazu beizeiten mehr. Bei solcher Entwicklungsarbeit fallen immer Stücke an, wo das eine oder andere auf Anhieb nicht so gut gelingt und was in einem zweiten Durchgang verbessert werden soll. Man könnte solche Prototypen nun als mangelhaft wegwerfen – oder sie, falls sie ansonsten gut gearbeitet sind, mit Hilfe der Kintsugi-Idee aufwerten und zu einer eigenen Reihe weiterentwickeln. Sie können gespannt sein, ob und wie mir das gelingt.

Ich freue mich über Kommentare an ateliergry@gmail.com.